Die sechs Gebote des Marktes
Auszug aus dem Buch "Eiszeit der Ethik" von Prof.Dr.Reimer Gronemeyer
<<< Mit freundlicher Erlaubnis des Autors >>>
Du sollst nicht stehlen.
Auf des Menschen Schultern allein scheint das Geschick des blauen Planeten zu liegen. An der
Wende zum neuen Jahrtausend wissen wir, daß wir die Möglichkeit haben, Schrecklich-Barbarisches
Wirklichkeit werden zu lassen, aber vielleicht auch mit der Chance begabt sind, aus der Welt
einen bewohnbaren Ort zu machen. Wie das Letzte gelingen soll, weiß wohl niemand. Gelingt es
den Menschen, sich auf humanisierende Grundregeln zu verständigen ? In den Menschenrechten
scheint so etwas angelegt zu sein - aber vielleicht nicht ganz ohne Grund behauptet die
chinesische Regierung, daß sich mit ihrer Tradition diese doch europäisch-amerikanisch gefärbte
Konvention nicht vereinbaren lasse. Ist das nur faule Ausrede, um in Ruhe Oppositionelle
einsperren zu lassen ? Das auch. Aber mit vielen traditional orientierten Gesellschaften sind
die Ideale demokratisch-partizipativer Kultur nicht vereinbar. Müssen sie verschwinden ?
Muß die Weltgesellschaft - notfalls mit Gewalt - diese neuen Gesetzestafeln durchsetzen ?
Oder reißt damit lediglich ein ganz bestimmter kultureller Strom hinweg, was es an kultureller
Vielfalt gegeben hat ?
Aber sind nicht längst neue Gesetzestafeln da ? Leben wir nicht schon mit einem neuen Kanon
von ehernen Geboten, die nun nicht ein Mose aus der Hand Gottes empfängt und vom Sinai herunterschleppt,
sondern die - von den Menschen selbst gegeben - zur Richtschnur modernen Handelns geworden
sind ?
Der alte mosaische Bund zwischen Gott und den Menschen hatte im Dekalog das Recht, der neue
christliche Bund die Liebe in das Zentrum des Verhältnisses gestellt mit den Worten: "Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."
Heute ist ein anderer Bund an die Stelle getreten, mit neuen Gesetzestafeln, die unter den
Menschen heute mehr Gültigkeit beanspruchen als die Tafeln des Alten Bundes: Es ist der Bund
zwischen Markt und Mensch. Der Markt ist der Regulator des Wirtschaftslebens, ja der Weltverhältnisse
überhaupt. Wir müssen - wie es geradezu religiös in den Berichten der Brüsseler Kommissare
formuliert wird - "auf die Mechanismen des Marktes vertrauen". Das Marktvertrauen will an die
Stelle des Gottesvertrauens treten. Wer sich nicht den Mechanismen des Marktes unterwirft, ist
ein Sünder und bekommt die Strafe des Marktes unweigerlich zu spüren. Riccardo Petrella,
Professor an der Katholischen Universität zu Löwen, hat die pseudoreligiöse Bedeutung des
Glaubens an den Markt und seine Mechanismen beschrieben: Es gibt kein individuelles oder
kollektives Heil ohne den Markt, und man kann hinzufügen: Der Glaube an den Markt ist die erste
wirkliche Weltreligion, die in Japan ebenso wie in den USA, in Europa und inzwischen sogar in
China gläubige Massen zu mobilisieren vermag.
Der Markt hat das Erbe der Religion angetreten. "Wenn ich eine Religion habe, dann die, daß
ein Unternehmen wachsen muß" sagt der Leihwagenkönig Erich Sixt. Walter Benjamin hat schon 1921
festgestellt, daß der Markt der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen dient, auf die
ehemals die Religionen Antwort gaben. Der Kult des Marktes ist traumlos, bewußtlos und absorbiert
alle utopischen Energien, er verbreitet das Gefühl lichter Immanenz. Alles Leben hat da seinen
Maßstab am Geld. Vergangenheit und Zukunft werden bedeutungslos. Was einmal Geist hieß - das
ruhelose Entwerfen von Alternativen - kommt zum Stillstand. Die neuen Gesetzestafeln enthalten -
so Petrella - sechs Gebote:
Das erste Gebot betrifft die Globalisierung des Kapitals, der Märkte, der Unternehmen und ihrer
Strategien. "Niemand kommt um den Globalisierungsprozeß herum" - das sagen Minister und Unternehmer
in Djakarta ebenso wie in Paris, Johannesburg oder Washington. Der indonesische Staatssekretär
Bachrum Harahap formuliert: Die Globalisierung der Produktion, der Telekommunikation, der
Verkehrsnetze und der Stromversorgung geht mit der Logik des Krieges einher: "Wenn es darum
geht, Investoren ins Land zu holen, ist es wie im Krieg: töten oder getötet zu werden" (International
Herald Tribune 14. September 1995). Der Gott der Globalisierung duldet keine anderen Götter
neben sich und hat eine Allmacht, die noch kein Gott der Menschen je hat beanspruchen können.
"Du darfst dich den Zwängen der Globalisierung nicht widersetzen, wenn du überleben willst."
Das steht auf der ersten Tafel der neuen Gebote.
Das zweite Gebot resultiert aus der wissenschaftlich-technischen Revolution, die es in den letzten dreißig Jahren auf den
Gebieten der Energie, der Materialforschung, der Gentechnologie, der Information und der Kommunikation gab. Es entsteht
eine Informationsgesellschaft und wer sich ihren Zwängen nicht unterwirft, verpaßt den Anschluß und wird über immer mehr
Arbeitslose und immer weniger Geld verfügen. "Du mußt die Informationsgesellschaft vorantreiben, wenn du morgen noch dabei
sein willst."
Das dritte Gebot verlangt, daß man konkurrenzfähig bleibt. Die Besten, die Stärksten, die Gewinner muß man stellen. Seid
ihr es nicht, werden es andere sein. Das gilt nicht nur für Unternehmen, sondern ebenso für Nationen, Städte und Regionen,
für Universitäten und Ministerien. Das dritte Gebot heißt also: "Du mußt deine Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt
steigern."
Das vierte Gebot folgt aus den vorangehenden Satzungen: Die nationalen Märkte müssen liberalisiert werden, um einen
schrankenlosen Weltmarkt zu schaffen, auf dem Waren, Kapitalien, Dienstleistungen und Personen frei zirkulieren können.
Die Interessen einer Gesellschaft und der souveräne Volkswille sind altmodisch oder sogar Ketzerei im Angesicht des über
allem thronenden Weltherrschers: dem freien Markt. "Du sollst den Markt liberalisieren, so daß keine nationalen oder
kulturellen Sonderwege ihm mehr zum Hindernis werden können."
Das fünfte Gebot folgt zwangslos aus diesen Voraussetzungen: Steuermechanismen aller Art die in Wirschaftsprozesse eingreifen,
müssen dereguliert werden. Weder Bürger noch ihre parlamentarischen Repräsentanten dürfen Normen und Prinzipien formulieren,
die in die freie Entfaltung der Kräfte des Marktes eingreifen. Der Staat hat lediglich günstige Rahmenbedingungen für die
Unternehmen zu schaffen, deren Tun und Treiben nicht transparent sein muß, die sich unter dem Schutz umfassender Deregulierung
der Anbetung des Wettbewerbs widmen können. "Du sollst deregulieren und den Unternehmen keine Einschränkungen irgendeiner Art
auferlegen."
Das sechste Gebot zielt ab auf die Privatisierung aller Wirtschftszweige. Der städtische Nahverkehr, die Eisenbahnen, der
Luftverkehr, die Gesundheitsapparate, das Erziehungswesen, die Banken, die Versicherungen, die Kultur, die Wasser-, Strom-
und Gasbetriebe, die Verwaltungsbehörden - sie alle müssen zu Teilen des Marktes und der freien Konkurrenz werden.
"Du sollst alles privatisieren, was noch nicht privatisiert ist, und so den Staat und alle öffentlichen Angelegenheiten den
Mechanismen des Wettbewerbs unterwerfen."
Der neue Bund, der Bund zwischen Markt und Mensch, der sich in diesen Geboten manifestiert, offenbart die Gottheit des 21.
Jahrhunderts. Dieser Gott ist kein gütiger Gott, wohl aber ein allmächtiger. Er wird die Welt zum Schauplatz eines gnadenlosen
Wirtschaftskrieges machen, in dem Individuen, Gesellschaften, Städte, Regionen, Länder und Kontinente verbissen ums Überleben
kämpfen. Es ist die Ablösung jenes Gottes, von denen die Christen annahmen, daß er ein guter Gott sei, der sogar seinen Sohn
auf die Erde geschickt hat, um die Menschen von ihren Sünden zu erlösen. An die Stelle tritt nun ein ökonomischer Greuelgott,
der wie Uranos bei den Griechen seine Kinder frißt, der wie der Baal der Karthager die in der Pfanne gerösteten Kinder frißt.
Der diejenigen, die ihm huldigen, mit Gütern überhäuft, diejenigen aber, die ihm nicht huldigen wollen oder können, in
namenloses Elend schickt. Die Zukunft der Ungläubigen heißt Hunger, Krankheit, Verdummung. Die neuen Gesetzestafel werden -
wenn wir ihnen nicht eine andere Richtung geben - die Ungleichheit zwischen den Menschen immer tiefer eingraben.
Wissenschaft und Technologie werden zur Waffe, um Konkurrenten auszuschalten.
Der entfesselte Markt wird dann nicht
Arbeitsplätze und Wohlstand für viele schaffen, sondern die Profitquellen einer kleinen Minderheit ins Ungeheure steigern.
Die Profiteure werden sich einen Blick auf die Verelendeten angewöhnen, der sie von allen Gewissensbissen entlastet. Die Idee
des neuen Bundes zwischen Markt und Mensch zieht die Rechtfertigung des Elends der anderen nach sich. Sie werden nicht als
Benachteiligte registriert, sondern als Versager. Und weil sie Versager sind, haben sie auch selber Schuld. Und weil sie
selber Schuld haben, muß niemand etwas für sie tun. Kann gelingen, was Helmut Dubiel als Aufgabe formuliert: den Kapitalismus
bis zur Unkenntlichkeit zivilisieren ?
Der triumphale Einzug des Bundes von Markt und Mensch in das 21. Jahrhundert geht einher mit der Verabschiedung von der Idee
der Humanität und Gerechtigkeit: Es scheint der Terror der Ökonomie sich durchzusetzen. Das Christentum hat ausgedient -
vielleicht auch deshalb, weil es immer wieder versagt hat, vor allem aber, weil es die Schrecken des 20. Jahrhunderts
mitgetragen hat: von Auschwitz bis Hiroshima sind die Barbareien des Jahrhunderts im Herzen christlicher Kultur entstanden.
Nun muß man sagen: die Barbarei hat eine große Zukunft, denn die neuen Gesetzestafeln haben eine Durchschlagskraft, eine
Allmacht, gegen die kein Kraut gewachsen zu sein scheint. Wer "Seiner Heiligkeit", dem Markt, widerspricht, ist schlechter
dran als ein Ketzer: denn er ist nach allgemeiner Übereinkunft ein Trottel. Der Markt, der als neue Gottheit auftritt, ist
deshalb so barbarisch, weil er nicht einmal vorgibt, ein guter Gott zu sein. Er ist vielmehr die Wiederverkörperung alter
Schreckensgötter: Er kommt daher als das, was die Griechen >anankä< nannten: als Notwendigkeit. Ein gnadenloser, ein
kannibalischer, ein blutrünstiger Gott.
So weit Herr Gronemeyer....ich kann nur empfehlen, das o. g. Buch selber zu lesen.