Besondere Texte, die das Allgäu charakterisieren

Eine Sammlung von Texten mit Bezug zum Allgäu von Katharina Adler, die für mich eine
der bedeutensten Menschen ist, die den Charakter des Allgäus festgehalten hat.
Dinge, die sonst heute verloren wären.

Text 1
Breit umrahmt der Hochgrat das westliche Allgäu. Er ist der höchste Berg der Nagelfluhkette. Bunt leuchtet
das Nagelfluhgestein. Es ist aus Geröllen von Granit, Gneis, Quarz und Glimmerschiefer zusammen-
gesetzt. Wie Nagelköpfe ragen die Oberflächen der kleinen Geröllsteine aus dem Fels.
Im Althochdeutschen heißt der Fels fluoh. Daher der Name Nagelfluh.


Text 2
Die Allgäuer sind Wallfahrer. Für die alte Bäuerin vom Sägetobelhof gibt es kein Elend, das sich
nicht "verbeten" läßt. Aber das Gebet in der stillen Kammer reicht nicht aus.
Man muss aufbrechen: nach Maria Steinbach, nach Maria Einsiedeln, nach Wigratzbad, nach Maria Schnee,
nach Maria Hilf, zum Gebhardsberg und nach Altötting.


Text 3
Das Wort "schön" ist im Allgäuer Sprachgebrauch fast ausschließlich den Kühen vorbehalten.
Von Menschen behauptet niemand, sie seien schön. Ein schönes Mädchen wird als lieb bezeichnet.
Am meisten bewundern die Allgäuer die fahlen Kühe. Wo der braune Ton der Gebirgskühe fast sandfarben
ausgebleicht ist, da bleibt man stehen und sagt immer wieder: Sind des scheene Küeh!


Text 4
Was Antonie Weitner vom Tod ihres Mannes erzählt: Als es bei meinem Mann mit dem Schnaufen immer
minder geworden ist, bin ich Tag und Nacht bei ihm geblieben. Aber am Donnerstag mußt ich Dach-
ziegel ausbessern, weil es reingeregnet hat. Grad in der Zeit ist es dann passiert. Wie ich reinkomm,
liegt er da mit aufgerissenem Mund. Ich hab gleich eine geweihte Kerze angesteckt und ein Fenster
aufgemacht, damit die arme Seele rauskonnte. Dann hab ich mich hingekniet und gebetet: Der Engel des
Todes ist herniedergestiegen, das Schwert der Trennung durchdringt meine Seele. O Gott der Liebe und
Erbarmung, zeigen deinem treuen Diener das Licht deines Angesichts!

Natürlich hab ich mir Vorwürfe gemacht. Hätt ich doch die Dachziegel sein lassen. Reden konnte er ja
schon zwei Tage nicht mehr, aber ich hätt seine Hand halten können, hätt mit ihm beten können.
Einmal hat er gesagt, der Tod gehört halt auch dazu, zu dem ganzen Plan. Man wird dann schon sehen,
wie s weitergeht. Unter seinen Papieren hab ich die Todesanzeige von seinem Vater suchen müssen, weil er
den gleichen Text haben wollte: heimgeholt in das Land der Verheißung hat der Herr seinen Diener
Emeran Weitner.

Letzten Winter, wie er erfahren hat, daß man für einen Sarg heut schon 430 Mark bezahlen muß, hat er die
Bretter vom Nußbaum gehobelt und einen Sarg gemacht, alles genau, mit schrägem Deckel.
So schnell hab er noch nie 430 Mark verdient, hat er gesagt.


Text 5
Das Ehepaar A. geht auf die achzig zu. Die Tochter hat auf einen größeren Hof geheiratet, der Sohn ist
Lehrer in der Stadt. Seit neun Jahren sind die Wiesen verpachtet, der Stall steht leer. Das große, alte
Bauernhaus ist den beiden eine Last, jeder Winter reißt Löcher ins Dach und das tägliche Schneeschaufeln
geht ins Kreuz. Mit Putzen wird man bei den 27 Fenstern nie fertig.

Auf dem Nachbargrundstück wurde ein Haus mit vier Eigentumswohnungen gebaut. Theresia A. möchte
ihr Haus gern verkaufen und in eine der Wohnungen ziehen. Gebhard A. sagt: 59 Quadratmeter, da wird
man doch dösig, keine Scheune mehr, in der man rumwirtschaften kann, drei Schritt hin und drei Schritt
her, schon rennt man an die Wand, so was muss man doch von klein an gewohnt sein. Theresia A. sagt:
Denk an den Balkon, auf dem Balkon können wir in der Sonne sitzen, niemand sieht uns. Wir hätten s so
schön wie die Stadtleut, nicht von früh bis spät kitten und sägen und streichen und ausbessern.

Es hat lange gedauert, bis alle Bedenken hin und hergewälzt waren. Gebhard A. hat sich ausbedungen,
daß er den Holzschuppen behalten darf. Da kann er Holz hacken und sägen und für die Tochter Zaun-
pfähle schälen. Und vor allem: Im Holzschuppen ist viel Platz. Er ist beinah so groß, wie die neue
Wohnung. In die hellste Ecke hat sich der alte Bauer schon Tisch und Bank gestellt, falls es drüben
zu eng wird.


Text 6
Unser Pfarrer ist 78. Seit über 40 Jahren wirkt er in unserem Dorf. Er kennt die entlegensten Einödhöfe
samt ihren Problemen. Er hat immer noch guten Rat für zähe Streitfälle. Als die Bäuerin vom Hörnerhof
nicht mehr aus noch ein wußte, weil die Nachbarin ihr die denkbar größte Beleidigung zufügte - sie schloss
die Stalltür, wenn die Hörnerbäuerin sich näherte, denn das Vieh sollte vor dem bösen Blick geschützt
werden - als nun die Hörnerbäuerin an nichts anderes mehr denken konnte, vertraute sie sich dem Herrn
Pfarrer an. Der sagte: Wenn Sie der Nachbarin begegnen, sagen sie laut zu deren Schutzengel "Grüß Gott!"
Der wird Ihnen helfen. Und in der Tat, die Nachbarin war über den langentbehrten Gruß so perplex, daß
sich das Verhältnis normalisierte.
Der alte Pfarrer ahnt nicht, daß er sich mit diesem Rat auf dem Gipfel der psychologischen Erkenntnisse
befindet. Er versucht einfach, die absurde Weisheit der Bergpredigt für seine Leute praktikabel zu machen.


Text 7
Der Tannenhof-Bauer bei einer Versammlung im Januar 1983: 15 Jahr lang ham mir uns immer wieder
sage lon müsse, daß ma mit 15 Hektar nicht existenzfähig, nicht daseinsberechtigt, nicht lebensfähig sei.
Des hot uf üs so an wahnsinnig psychologischen Druck ausgeübt, mehr noch als der finanzielle Druck.
Ma müsst eigentlich vor jedem Büer, der sich nicht von dere irrsinnige Idee leite lon hot, der sich als
dumm rückständig na stelle lon hot, ma müßt vor jedem Büer de Hut lupfe.

Daß ma bei üs im Allgäu mit 15 Hektar lebensfähig si ka, des hängt domit zämmet, daß ma möglichst unab-
hängig wirtschaftet. Und zwar unabhängig von Zukaufskraftfuttermittel und Handelsdünger. Wenn i des a
bizzle auf unseren eigenen Hof zuschneide derf, mit hont 15 Küh und 20 Stück Jungvieh. Mit dem können
mir einen Acht-Personen-Haushalt, des sind 5 Kind, ein Großvater und mir zwei, gut versorge. Drüber nüs
hont mor vor 6 Johr an Jungviehstall für 12 Stück baut. Letschts Johr hamma an Maschinenschuppe baut.
Do möcht i no dazu sage, daß ma du dem kei Mark vom Staat kriegt hont und trotzdem hont mir kei
Mark Schulde aufm Hof. Jetzt tät mi bloß noch intressiere, wieso der Staat bisher blos große Höf hot
welle und die kleine numma. Denn was bietet denn der Großbetrieb gegenüber dem kleine ? Nit meh
und nit weniger als wie ein Arbeitsplatz und ein Lebensunterhalt für seine Familie. Bloß mit dem eine
Unterschied, daß der kleine Hof den Staat kein Pfennig kost, und der Großbetrieb, da steckt er laufend
bloß Zuschuß ni.


Text 8
Die Sakristeitüre der Genhofer Kapelle ist völlig mit Hufeisen bedeckt. Die Kapelle liegt an der Straße,
auf der früher das Salz von Immenstadt her nach Bregenz und Lindau transportiert wurde. Die Fuhrleute
hatten allen Grund, mit ihrer Hufeisen-Gabe den Segen des heiligen Stephanus zu erbitten. Vor allem in
den Jahren 1770 bis 73 waren sie, wie der Chronist Mathias Berkhman berichtet, "in größten Ängsten
gestanden". Sie sollten nicht mehr ihren gewohnten Weg über Scheidegg, Ruggsteig oder über Riedhirsch,
Heimenkirch benutzen, sondern die neu erbaute Landstraße über Weiler, Scheffau, Langen, Fluh.
Der neue Weg führte "durch das Rickenbacher Tobel - allwo vormals weder Zahmes oder Wildes durchkommen
konnte. Es wird klar vorgesehen, daß dieser so kostbare neu aufgerichtete Weg in die Länge brauchbar
zu erhalten unmöglich sei, in Betrachtung der vielen Gräben, Bächen, tiefen Tobeln". Die Fuhrleute
blieben bei ihren gewohnten Wegen. "Da ist auf Befehl des Oberamtes die Ruggsteig unbrauchbar gemacht
worden, indem alle Brücken sind zusammengesackt worden."

Daraufhin ging der Salzhandel sehr stark zurück. "Da ist das Oberamt genötigt worden", schreibt der
Chronist, "die in der Ruggsteig ruinierten Brücken selbsten wiederum machen zu lassen. Aber an der
alten Straße hat man so wenig machen lassen, als immer möglich gewesen, damit sie desto ehender
unbrauchbar werden möchte." Aber das Oberamt hatte die Zähigkeit der Fuhrleute unterschätzt. Nicht
die alte, sondern die neue Straße ist unbrauchbar geworden. Fünf Jahre später fügt der Chronist seinen
Bericht hinzu: "Der neu aufgerichtete Weg ist allbereits wie unbrauchbar und wird von niemandem mehr
gebraucht als von denen Hintertoblerischen Gemeinden, auch von denen Wallfahrern oder Pilgersleuten."


Text 9
Auf dem Lingenhölischen Dachboden werden immer noch auf zwei Horden Heilkräuter getrocknet.
"Verglichen mit früher ist es nicht mehr viel", sagt die Bäuerin, "aber bei manchen Fällen hilft s
Kraut besser wie jede Medizin. Einen Husten kann man am besten loswerden, wenn man gleich beim
ersten Huster heißen Huflattichtee trinkt und die Grippe schwitzt man mit Holunderblüten raus.
Mein Mann sammelt Zinnkraut. Die Kieselsäure, sagt er, fegt die Harnwege wie ein Besen aus. Am
liebsten trinken wir den Weißdorn. In guten Jahren schmeckt er nach Honig. Er macht das Herz
stark und den Schlaf ruhig."


Text 10
Klar gibt es Zäune im Dorf. Überschaubare, jeder weiss alles von jedem:
Sein Großvater war ein Trinker, die Mutter hungrig vor Geiz. Der Daniel hat früh schon
gestohlen, kaum vierzig Jahr sind es her.
Das dort sind steinreiche Leute, die streiten ums Flaschenpfand.
Und da wohnt der Ochsenreiter der betet die Kranken gesund.


Text 11
Die Allgäuer Höfe sehen immer noch aus wie Überlebensburgen. Unter breitgiebligen Dächern sind
Mensch und Tier und Heu und Holz gemeinsam untergebracht. Jeder Hof eine Arche Noah, die allen
Gefahren gewachsen scheint. Aber der Schein trügt. In den letzten 25 Jahren ist die Zahl der
Höfe auf die Hälfte zusammengeschrumpft. Gefördert werden nur noch Höfe mit mindestens 35 Milch-
kühen. In den Bergregionen über 700 Meter müssen es mindestens 25 Milchkühe sein. Die Allgäu-Höfe
sind von Natur aus kleiner. Berg und Tal haben ihnen Grenzen gesetzt. Wenn einer 18 Kühe hat, ist
er schon ein stattlicher Bauer. Es gibt Höfe, die sogar mit 10 Kühen gesund wirtschaften. Meist
sind die kleineren Höfe der bessere Nährboden für eine bäuerliche Kultur, in den Großbetrieben
wächst die Hektik.

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