Das Bild auf meinem Schreibtisch



Auf meinem Schreibtisch steht ein Bild seit langen Jahren. Nicht ganz exakt in einen einfachen Glasrahmen gezwängt, mit Tesafilm in der rechten unteren Ecke, die leicht beschädigt ist, verarztet.
Damit es einigermassen, zugegeben, leicht schief aufrecht auf dem Schreibtisch sein Dasein fristen kann, ist auf seiner Rückseite ein selbstgebasteleter Pappkarton mit viel Tesafilm befestigt. Tesafilm ist ein absolut vielseitig verwendbarer Werkstoff, er in unserer Gesellschaft im Verhältnis zu seiner Bedeutung immer noch extrem wenig Achtung und Beachtung findet.
Dieses alte Foto ist eine Türe in eine andere Welt, also weit entfernt von jeglicher Banalität.
Die alte Kirche von Castello, die hoch über dem See am Hang gebaut ist, bietet einen guten Ausblick auf den länglichen, schlauchförmigen Abschnitt des Sees. Die gepflasterte Terrasse vor der Kirche ist von einer niedrigen, dicken Mauer umgeben.
Links unterhalb der Mauer, da wo die alte Treppe vom Dorf hinab zum Autoparkplatz führt, drückt eine große Palme ins Bild hinein. Davor am Bildrand ein durch die Bildgröße abgeschnittener Blumenkasten von roten Geranien bewohnt. Geranien im Tessin wirken eigenartigerweise viel intensiver als im Allgäu. Die Umgebung prägt die Pflanze und die Pflanze prägt die Umgebung: ein Geben und Nehmen in Wechselseitigkeit.
Am rechten Bildrand ist die verwitterte Aussenmauer der Kirche wie eine stützende Säule des ganzen Bildes verankert. Aussenmauern von italienischen Kirchen müssen so verwittert, so gefleckt aussehen, sonst ist es keine echte italienische Kirche, sondern nur eine schweitzer oder deutsche Import-Kirche.
Manche Dinge müssen so sein, wie sie sind, so unvollkommen. Dies gilt insbesondere für italienische Kirchen und Kapellen. In ihrer Unvollkommenheit taucht in der Tiefe Vollkommenheit heraus.
Eine einzelne Person steht mit Bergschuhen, kurzen Hosen, Rucksack, Wanderstock und Sonnenhut, dem Betrachter den Rücken zukehrend am Anfang der rechten Bildhälfte an der niedrigen Mauer der gepflasterten Terrasse und blickt hinunter auf den See, der im Dunst eines längst vergangenen Sommertages träumt.
Der Blick ist nach beiden Seiten von dunklen, steilen Bergflanken begrenzt, die sich in die Weite hinein langsam grau in den Dunst hinein auflösen. Am hinteren Ende sind noch schemenhaft die Umrisse des Monte San Salvadore erkennbar.
Die einsame Person auf dem Bild blickt genau auf diesen Berg, in die verträumte Weite des Tessiner Sees.
Das ganze Bild ist eine Türe, hinein in die Stille des Tessins.
Und diese offene Türe steht auf meinem Schreibtisch. Hindurchgehen ist möglich, wenn ein Inneres sich mit dem Bild hier verbindet, eine Reise kann dann beginnen. Eine Reise zur Sehnsucht nach Erholung, Frieden, Abgeschiedenheit und Annahme. Immer wieder bin ich durch diese Türe geschritten, mein Reiseziel jedoch habe ich nie erreicht. Es scheint noch weiter entfernt, als die Schemen des San Salvadore im Hintergrund des Bildes.
Wie oft treten wir diese Reisen an, ohne je ans Ziel zu gelangen, jeder von uns.