Der König kommt
"Der König kommt, der König kommt in unser Dorf!"
Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Sturmwind, bis hin zum letzten Bauernhof in der Umgebung. Nachdem es der allererste Besuch des Königs hier war, und noch niemand aus dem Dorf den König bisher
kannte oder auch nur gesehen hatte, entstand schnell eine aufgeregte Unruhe.
Der Bürgermeister rief die wichtigsten Männer zu sich ins Rathaus, um den hohen Besuch vorzubereiten.
Die ganze Nacht durch wurde diskutiert, Beschlüsse wurden gefasst und kurz danach wieder verworfen, weil neue Ideen und neue Befürchtungen in der Runde aufkamen. Bei Sonnenaufgang schloss der Bürgermeister
erschöpft die Sitzung mit der Entscheidung, dass es unmöglich sei, eine gemeinsame Begrüßung für den König zu gestalten, da niemand wisse, auf was der König Wert lege. So solle jeder Bürger sich nach
eigenem Gutdünken auf den Besuch vorbereiten.
Dies Nachricht wurde bald überall bekannt gemacht und so begannen die Dorfbewohner mit ihren Vorbereitungen.
Der Bürgermeister war sich aufgrund seinen langjährigen diplomatischen Erfahrungen (so nannte er die paar Besuche bei Bürgermeistern der Nachbardörfer) sicher, dass er wohl ama besten wisse, wie ein
König zu empfangen wäre.
Am meisten Sorgen machte ihm die Gemeindekasse, die dauerhaft leer und ausgerechnet jetzt sogar mit Schulden belastet war. Die neue, hochwertige Einrichtung für sein Büro hatte zu viel Geld gekostet.
Immerhin hatte er dadurch die Möglichkeit, dem König zu präsentieren, welch wichtige Position er doch im Dorf inne hatte. Lange Stunden rechnete er an der Buchhaltung herum, bis er es tatsächlich
schaffte, die Schulden mit ein paar nicht vorhandenen Grundstücken aufzurechnen. "Na also, geht doch", meinte er zufrieden, "jetzt kann der König kommen!"
Auch der Gärtner machte sich Sorgen. "Ein König will sicherlich prächtige Blumen sehen", dachte er verzweifelt und blickte auf seine paar kümmerlichen Vergissmeinnicht, die am Rand der Salatbeete vegetierten.
Seine Gärtnerei machte mit Blumen keine Geschäfte, weil im Dorf jeder seinen eigenen Garten mit vielen schönen Blumen pflegte. Das Gemüsegeschäft hingegen lief recht gut. Da fuhr der Gärtner mit seinem
Lieferwagen in die Stadt und kaufte dort 100 Kunststoff-Blumen ein. Diese verteilte er überall um sein Haus herum. Nach dem Besuch des Königs würde er die Blumen auf den Müll werfen. "Wem gefallen
schon künstliche Blumen, ausser einem König ?" dachte er sich.
Der Pfarrer war beunruhigt. Im Dorf ist der Kirchenbesuch sehr nachlässig geworden in letzter Zeit. An manchen Sonntagen war die kleine Dorfkirche weniger als zur Hälfte gefüllt. So konnte er sich auf
keinen Fall als erfolgreicher Hirte seiner Schäfchen präsentieren. Nach langem Grübeln hatte er eine Lösung für sein Problem gefunden. Zusammen mit dem Kirchendiener trug er die Hälfte aller Bänke aus
der Kirche hinaus und versteckte sie im Gebüsch hinter dem Friedhof. Die verbliebenen Bänke ordnete er in größeren Abständen an und so konnte er dem König sicher dann volle Kirchenbänke vorzeigen,
wahrscheinlich war es, dass ein paar Gottesdienstbesucher sogar nur noch Stehplätze bekommen würden. "Um so besser", dachte er sich, "vielleicht lässt der König sich dann zu einer großzügigen Spende für
neue, schönere Kirchenbänke erweichen."
Der Lehrer war aufgeregt. Noch nie ist er einem König begegnet. Aus Büchern kannte er Bilder und Beschreibungen von Königen, die ihm Angst machten. Diese Könige waren grausame, eitle und prachtliebende
Herrscher. Sicher legte ein König Wert auf Bildung und auf ordentliche Schüler. Und wenn er dies nicht vorfand, war der Lehrer wahrscheinlich der erste, der der Wut des Königs zum Opfer fiel. Dagegen
musste ere unbedingt etwas unternehmen.
Natürlich räumte er höchstpersönlich das Klassenzimmer der Dorfschule, ja die ganze Schule vom Keller bis zum Dachboden auf und entfernte jeden Schmutzfleck und jede Spinnwebe mit eigenen Händen. Die
Fenster wurden geputzt und so erschien das Klassenzimmer plötzlich viel heller und freundlicher als je zuvor. Die Schüler wurden im Einmaleins getrimmt und mit harten Strafen bedroht, sollte sich eines
der Kinder nicht exakt an seine Anweisungen halten.
Ein Lied zur Begrüssung wurde einstudiert und ein paar Fragen über Heimatkunde, die jeder Schüler schnell und klar beantworten konnte, bereitete der Lehrer vor. Und zu seiner persönlichen Absicherung
sperrte er die Seitentüre des Klassenzimmers auf, die in den Schulgarten führte. Im Notfall konnte er dann durch den Garten schnell in den Wald fliehen und sich dort vor dem grausamen König verstecken.
"Ein guter Plan und eigene Absicherung ist das Wichtigste", sagte er zufrieden zu sich selbst.
Der Viehhändler im Ort machte sich ganz andere Gedanken. Durch betrügerische Geschäfte und knallharte Verhandlungen hatte er sich über die Jahre ein großes Vermögen angehäuft. Diesen Reichtum wollte er
unbedingt dem König demonstrieren. Sicherlich beeindruckten Könige erfolgreiche Menschen, die schlau waren, die sich durchsetzen konnten, auch mal auf Kosten von anderen oder der Allgemeinheit.
Nach kurzem Überlegen fuhr er mit seiner Frau in die Stadt. Sie kauften sich dort im vornehmsten Geschäft prächtige neue Kleider. Mit diesen wunderschönen Kleidern würden die beiden dann durch die
Dorfgassen schreiten und so den Glanz ihres Erfolgs überall aufleuchten lassen. Selbstbewusst sagte sich der Viehhändler:"Ich bin bereit, der König kann kommen."
Auch der Bäcker grübelte und grübelte, aber es fiel ihm einfach nichts ein, wie der König zu beeindrucken wäre. Gut, er könnte natürlich ein besonders großes Brot backen, aber was würde das schon
bedeuten ? Für eine Torte reichte es nicht, die Kunst der Konditorei beherrschte er nicht; er hatte es nur zum einfachen Dorfbäcker gebracht, den sein kleiner Laden mehr schlecht als recht gerade so
über Wasser hielt.
Verschönerungen an seinem Haus konnte er sich deshalb nicht leisten und schon gar nicht so schöne teure Kleider, wie die vom Viehhändler nebenan.
Dem Bäcker waren Künste wie Musik oder Malerei völlig fremd, er war kein guter Redner und sportlich war er auch nicht. Sein Aussehen konnte man bestenfalls als durchschnittlich bezeichnen. Sein ganzes
Leben war nur Durchschnitt. So sah es aus, da gab es nichts zu beschönigen.
Wie er darüber nachdachte wurde er immer mehr bedrückt, weil ihm bewusst wurde, wie bedeutungslos sein Dasein hier eigentlich war. Nicht mal seine Brote waren besonders lecker, ganz zu schweigen von
seinen einfachen Kuchen, die er hin und wieder verkaufte.
Resigniert fasste er den Entschluss, dem König einfach ehrlich entgegenzutreten, nichts hervorzuheben, ihm zu gestehen, dass er nichts, aber auch gar nichts zustandebringen konnte, was einen König
auch nur im Entferntesten beeindrucken würde.
Seine einzige Hoffnung war, dass der König ihn angesichts der anderen wichtigen Personen im Dorf ohnehin gar nicht beachten würde. So beschloss er, beim Empfang gleich gar nicht teilzunehmen und sich
hinten in der Backstube zu verstecken. Natürlich hätte er den König gerne mal gesehen, wenigstens von Weitem, aber "man kann nicht alles haben", sagte er sich. Das sagte er immer.
Mit den Vorbereitungen verging die Zeit wie im Fluge und so kam der Tag, an dem der König mit seinem prächtigen Gefolge das Dorf mit seinem Besuch beehrte.
Sehr zum Missfallen des Bürgermeisters drängte sich der Viehhändler mit seinen prächtigen Kleidern ganz nach Vorne und breitete gönnerhaft die Arme aus, um den König würdevoll zu begrüßen. Die Schulkinder
sangen Lieder, die Kunststoffblumen des Gärtners leuchteten, der Pfarrer genoss die prall gefüllte Kirche. Jeder im Dorf versuchte, einen möglichst guten Eindruck zu machen. Dadurch entstand ein Gerangel
und ein Durcheinander, in dem die Dorfbewohner so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass keiner bemerkte, wie der König schon längst weiter in das Dorf hineingezogen war.
Er kam an der Gärtnerei vorbei, hielt dort jedoch nicht an, auch die Schule ignorierte er und sogar die Kirche beachtete er nicht. Auf das Rathaus warf er keinen Blick, jedoch vor der kleinen Bäckerei
hielt er völlig unerwartet an.
Dort stieg er vom Pferd, betrat den Laden und betrachtete das kärgliche Angebot des Bäckers. Als niemand auf das Klingeln der Ladenglocke reagierte, rief er laut: "Hallo, Herr Bäcker, ich möchte gerne
ein Brot bei ihnen kaufen." Da eilte der Bäcker aus seinem Versteck in der Backstube vor, in den Laden und wäre fast in Ohnmacht gefallen angesichts der prächtigen Erscheinung des Königs, der dort an
seiner Auslage stand.
Kreidebleich stammelte der Bäcker:"Ich habe nichts, das ich Ihnen geben könnte, Majestät, bitte verzeihen Sie mir." Der König lächelte freundlich und widersprach: "Doch, mein Bester, ein Brot werde ich
von dir kaufen und das gerne." Zitternd reichte der Bäcker dem KÖnig das Brot herüber. Der nahm es und gab dem Bäcker dafür zwei Goldstücke. Danach schüttelte er dem Bäcker die Hand und sprach:
"Du, Bäcker, warst der einzige ehrliche und aufrichtige Mensch, den ich in diesem Dorf gefunden habe." Und er lud den verdutzten Bäcker ein, ihn später in seinem Schloss zu besuchen.
Danach bestieg der König wieder sein edles Pferd und ritt samt Gefolge wortlos aus dem Dorf hinaus.