Spaziergänge I 10.05.1985



Kennst du das ?
Das Gefühl wunderbarer Freude und gleichzeitiger Trauer ? Wie eigenartig, und doch ist es so. Wie wunderbar ist Deine Schöpfung, Herr, wie wunderbar ist die Katze, die auf der Rückseite des alten Bauernhofes ganz ruhig in einem glaslosen, kleinen Holzfenster in der Dämmerung sitzt. Sie sitzt nur dort. Und nichts sonst ist da, nur Dämmerung, Vogelgezwitscher, feuchte Luft, tropfender Regen und Stille. Und Du und ich, Herr. Welch wunderbarer, kostbarer Moment.
Schon bin ich daran vorbeigegangen und es war einmal. Dies ist die Trauer in diesen Momenten, dass sie so kurz sind, jetzt da und doch schon vorüber, unwiederbringlich und alle Worte können diesen Moment nicht mehr zurückbringen. Es ist unfassbar, wie das Leben.
Kennst du das ?
Neben dem rauschenden Wehr zu stehen, im Einbruch der Dunkelheit, gefangen und begeistert zu sein, von der Kraft des Rauschens, der Lebendigkeit des Wassers, der Bewegung, die immer dort stattfindet, auch wenn ich nicht mehr dort bin. Das Rauschen des Baches erzählt von Unbekanntem und doch Bekanntem: von Deiner Gnade, Herr und von Deiner Hoheit, in der deutlich wird, dass jeder Augenblick im Nu vergeht und doch so unaufhörlich ist, so unbegreiflich viele Zeit durchfliesst und scheinbar, momentan, nicht endet.
Wie wird Deine Ewigkeit sein ? Wie ist sie jetzt bereits ?
Und dann: herauszutreten aus dem sinnefüllenden Rauschen, hineinzutreten in den Konzertsaal der Vögel. Spüren, hören, wie das Rauschen des Baches immer leiser wird und das Singen, Jubeln, Pfeifen, Fröhlichsein und Geschäftigsein der Vögel, unserer Mitgeschöpfe zu Deiner Ehre, immer mehr Raum einnimmt.
Dann sitzen auf der feuchten Wiese in der Dämmerung, das Rauschen schon fast vergessend und das Angesicht erhebend zum grauen Himmel und spürend, Tropfen um Tropfen, leicht wie Streicheln Deiner Hand, geliebter Vater.
Sag, kennst du solche Augenblicke, so unfassbar, die reichsten, die flüchtigsten, friedvollsten, geborgensten, die so absolut kurzen und doch im Moment ewigen Augenblicke ?
Wie kurz ist das Leben, wie reich beschenkt mich Gott mit Seiner Gnade, der ich doch überhaupt nichts beanspruchen könnte.
Gottes Gedanken sind wir alle, so kurz und doch ewig, wie jene Momente.
Ehre sei Dir, oh Herr.