Der Zug (ist abgefahren) 20.0.85



Ich erwachte, als die Sonne ihre goldenen Finger über dem Horizont in mein Zimmer gleiten liess. Sonnenstrahlen schwebten über dem schwachen Nebel, der in der Ferne noch auf dem Wald lag. Sofort drang das melodische Läuten der Kuhglocken und das Krähen des nachbarlichen Hahnes an mein Ohr. Es war alles so vertraut, und ich fühlte mich sofort frisch und munter.
Nach dem Frühstück ging ich fröhlich den ausgetrampelten Pfad die Viehweide entlang, hinab ins Tal, wo die Eisenbahnlinie verläuft.
Neben der Brücke über den kleinen Bach stand das alte Bahnwärterhaus. Leider war es schon eine Weile unbewohnt und deshalb sieht es auch nicht mehr so hübsch aus wie früher, als der freundliche, alte Bahnwärter hier lebte Ich versorge noch immer die Blumen in den Töpfen und im Garten vor dem Haus. Dies tu ich natürlich nicht nur aus Liebe zu Pflanzen, sondern vor allem wegen meinem Zug. Dem Zug!
Schon seit Jahren stehe ich täglich hier, beim alten Bahnübergang und warte auf den Zug. Laut Plan kommt er um 9:13 hier vorbei. Selten gibt es mal eine Verspätung oder er kommt eine Minute früher. Ich verzeihe ihm diese geringen Abweichungen vom Plan gerne.
Mein Zug sieht sehr schön aus, wenn er so gemütlich in schwarz durch das grüne Tal schaukelt. Freudig stösst er seine Dampfwolken in den blauen Himmel. Die Fahrgäste sind guter Dinge. Wie könnte es bei einem so liebenswürdigen Schienengefährt auch anders sein ? Schliesslich ist er ja mein Zug.
Ja, schon von Ferne höre ich das Rasseln, Stampfen und Schnaufen am Ende des Tales, wie er immer grösser wird, und dann geschieht Folgendes:
Ich hole die Ziege aus dem Stall hinter dem Bahnwärterhaus und stelle sie auf die Geleise. Dann streue ich ein paar Blätter und saftiges Gras zwischen die Schienen, damit sie dort auch schön brav stehenbleibt. Der Zug fährt gemächlich heran, denn der Lokführer weiss, dass an dieser Stelle oft eine Ziege auf den Geleisen steht. Er hält den Zug vorsichtig an und steigt von der Lok, um die Ziege wegzuführen.
Welch ein herrlicher Augenblick! Der Zug steht vor mir, die Kolben schlagen hell im Leerlauf und ich liege wie immer hinter den Büschen verborgen und warte, bis mein Zug wieder anfährt. Dann springe ich hervor und laufe so schnell wie möglich hinter meinem Zug her. Ich kann es einfach nicht ertragen, dass mein Zug, mein geliebter Zug wieder ohne mich weiterfahren will! Ich beschleunige die Schritte, so schnell, bis ich fast ins Stolpern gerate. Mein Puls rast, die Lungen stechen, und dann, nach einiger Zeit, als mein Zug bereits am Ende des Tales verschwunden ist, breche ich atemlos und weinend zusammen. Wieder ein Rennen verloren. Ein Rennen, das ich bisher noch nie gewinnen konnte. Kann ich es überhaupt ?
Mein geliebter Zug wird immer schneller sein, als ich.
Dies ist die Geschichte von meinem geliebten Zug und ich muss sagen, Züge und Menschen wären wahrscheinlich kein gutes Paar. Dennoch liebe ich ihn, meinen Zug, auch wenn es eine Geschichte ohne Hoffnung, ein Ende wie Ertrinken ist.