Grenzgeschichten zwischen Scheidegg und Möggers



Die Schmugglerinnen:
Die Frauen von Oberreute haben sich in früheren Jahren einen religiösen Brauch zu Nutzen gemacht,
um an günstigen, zollfreien Kaffee zu kommen. An den sog. "Bitttagen", das sind die Tage vor Christi
Himmelfahrt im Frühsommer, war es üblich, bei Flurumgängen für gute Ernte zu beten. Die Prozession
führte nach Sulzberg. Auf dem Rückweg versteckte manche Frau Kaffeepäckchen in der Kleidung. Dies er-
zählt Heinz Möslang, Vorsitzender des Heimatdienstes Oberreute, der selbst nach der Grenze aufgewachsen
ist. Nach dem Krieg sei diese Form des Kaffeeschmuggels recht verbreitet gewesen.
Die Zöllner freilich wussten, dass manche Katholikin im Gewand Schmuggelware versteckte, mit der Kontrolle
taten sie sich jedoch schwer. Schließlich wurden weibliche Beamte zu ihrer Unterstützung eingesetzt.
Seither mussten die Frauen aus Oberreute nach dem Bittgang mit Leibesvisitationen rechnen.

Zum Tanzen nach Thal:
Die Bälle in Thal waren legendär. Die jungen Leute aus dem kleinen Ort Siebers, der an der Straße nach
Bregenz liegt, interessierten sich in den Nachkriegsjahren jedenfalls kaum für die Fasnacht im fast fünf
Kilometer entfernten Weiler. Denn auf der anderen Seite des Grenzflusses Rothach, im Vorarlberger Dorf Thal,
ging es in der "Krone" besonders lustig zu. "Es war halt allat lustig und zünftig im Thal deanet", erzählt
noch heute Luise Mayr, die in Siebers aufgewachsen ist und seit Jahren im Ostallgäu lebt. Sie und ihre Ge-
schwister kannten die Pfade runter zur Rothach, die Stege über den Fluss. Und sie wussten, den Grenzbeamten
auszuweichen.
Denen war freilich klar, dass die Grenze des Nachts nicht ganz dicht war. Einmal stand ein deutscher Grenzer
am Türpfosten den Kronesaals und forderte jeden vorbeitanzenden Westallgäuer auf, sich am nächsten Tag bei
der Grenzstation zu melden. So weit ist es wohl nicht gekommen. Laut Gerüchten ist der Beamte in der Gast-
stube verhockt und hat sein Vorhaben vergessen.

Die Mutter durfte nichts davon wissen, dass ihr Alfi schon als sechsjähriger Bub ein erfolgreicher
Schmuggler war. Die Gegend rund um den Grenzübergang Scheidegg-Weienried (Gemeinde Möggers) kannte er gut; für
seine kleinen Botengänge hatte er die ideale Route ausgemacht. Die Staatsgrenze bescherte dem jungen Scheid-
egger nicht nur einige Abenteuer, Alfons Maurer, in Scheidegg als Alfi bekannt, hat außerdem eine Reihe
spannender Geschichten aus erster Hand erfahren.
Seine Auftraggeberin war die Tante. Für sie schmuggelte der kleine Alfi Kaffee aus Österreich. Bis ins Teenager-
alter war der im Jahr 1940 geborene im Sommer auf versteckten Pfaden unterwegs. Noch heute kann er die Strecke
exakt schildern: Von der Zollerstraße in Richtung Ellenmoos, dann entlang des Rickenbachs - und zwar auf der
rechten Seite - zu den Hasenreuter Wasserfällen. Dort befand sich eine Holzssäge, bei der die Familie Maurer
Miteigentümer war. Alfi gelangte schließlich zur Straße, die nach Aizenreute führt, ging auf dem Höhenzug weiter
bis zur Kurve zwischen deutschem und österreichischem Zollamt, wo er einen toten Winkel kannte. Der war von
beiden Seiten nicht einsehbar. Im kleinen Laden von Weienried kaufte er zwei oder drei Pfund Kaffee und machte
sich auf den Rückweg.

Gut zwei Stunden war er unterwegs, um der Tante günstigen Kaffeegenuss zu bescheren. Eine Art Ferienjob ? Ich hab
schon mal ein Fünfzgerle bekommen, sagt Alfons Maurer. Aber vor allem hat es Spaß gemacht. Die Befriedigung, nicht
erwischt zu werden, der Ehrgeiz, Wege zu finden, die andere nicht kennen: an all das erinnert sich der heute 80-
Jährige gut. Auch andere Westallgäuer transportierten regelmäßig unverzollte Ware über die sog. "grüne Grenze".
Schokolade, Kaffee, Zigaretten, Tabak, Seidenstrümpfe, Stroh-Rum: "Das war das Schmuggelgut der kleinen Leute",
sagt Maurer.

Geschichten aus der Schmugglerzeit:
Zwei junge Männer aus Weienried wollten an einem Weihnachtsfest der Nachkriegsjahre ihren Scheidegger Freundinnen
besondere Freude bereiten. Sie packten Schokolade und Kaffee in ihre Rucksäcke und warteten an Heiligabend bis nach
Mitternacht ab, denn zwischen 0 und 6 Uhr war die Grenzstation geschlossen. Als sie in der Dunkelheit an den Grenz-
gebäuden vorbeischlichen, kam doch noch ein Zöllner vom seitlich gelegenen Hundezwinger. "Er hat die Burschen gestellt,
doch sie sind losgerannt", erzählt Maurer. Einen habe der Zöllner erwischt und am Rucksack gepackt, doch dieser
schlüpfte aus dem Riemen und floh mit dem Freund Richtung Scheidegg. "Um 1 Uhr sind die beiden in der Krone angekommen -
mit nur einem Rucksack." Die Geschichte fand laut Maurer ein gutes Ende: die jungen Männer teilten die Köstlichkeiten
auf und bescherten ihre Angebeteten - wenn auch etwas weniger als geplant. Später holten sie die Freundinnen von
Scheidegg nach Möggers und heirateten sie.

Bis zum Inkrafttreten des Schengener Abkommens Mitte der 90er Jahre markierten Schlagbäume die Grenzen zu Österreich.
Das Scheidegger Exemplar war für einen Bauunternehmer ein besonderes Ärgernis. Er hatte sein kleines Geschäft auf deutschem
Gelände bei Weienried, das allerdings hinter dem Schlagbaum lag. Diesen musste er passieren, um mit seinem Fahrzeug nach
Scheidegg zu gelangen. Untertags kein Problem - unmöglich während der nächtlichen Schließzeiten. Der Handwerker konnte weder
vor 6 Uhr früh losfahren, noch einen Arbeitstag bis nach Mitternacht im Gasthaus ausklingen lassen.
Eines Abends stand der Bauunternehmer zu spät vom Wirtshaustisch in Scheidegg auf. Doch eine Stunde später war er schon wieder
in der Krone. Strahlend verkündet er: Heute kann ich so oft hin und her fahren, wie ich will. Ich habe den Schlagbaum abgesägt.
Freilich war der Holzstamm bald ersetzt, was den Handwerker nicht hinderte, erneut zur Säge zu greifen. Die Grenzpolizei aber
lernte dazu und bald berichtete der Mann im Gasthaus: Jetzt kann ich ihn nicht mehr absägen, die haben einen aus Metall hin gemacht.

Im Lauf der Jahre muss sich eine Art Kleinkrieg zwischen den Grenzern und diesem Anwohner entwickelt haben. Auf verschiedene Weise
trietze der Bauunternehmer die Beamten, und schließlich musste er sich vor Gericht in Weiler verantworten. Diese Verhandlung hat
Aufsehen in der Gemeinde erregt, Maurer saß unter den Zuhörern im Gerichtssaal. Nach seiner Schilderung stand der Angeklagte plötzlich
auf, zeigte auf einen Grenzpolizisten und sagte: Und dieses kleine, grüne Arschloch da hinten...Das konnte der Richter nicht dulden
und verhängte eine Ordnungsstrafe von 20 Mark. Einschüchtern ließ sich der Angeklagte dadurch nicht, erzählte der Beobachter.
Er hat einen Hunderter herausgezogen und wiederholte: du Arschloch, du Arschloch, du Arschloch - bis er schließlich zum Richter gesagt
hat: Fünfmal, das stimmt jetzt genau.
>> entnommen aus der Allgäuer Zeitung Nr. 39, 17.02.21