Als der Müller zum Zahnarzt musste



Wer geht schon gerne zum Zahnarzt? Na gut, meistens bekommen die Kinder ein Geschenk, aber oft sind die Schmerzen beim Bohren doch wesentlich schlimmer als die Freude an einem kleinen Spielzeug. Erwachsene gehen genausowenig gerne zum Zahnarzt wie die Kinder. Denen tut es nämlich genauso weh wie euch. Und was der Müller damit alles erlebte, erzähle ich euch jetzt:

Es war an einem wunderschönen Sommertag in der Mühle. Es war warm, die Bauern waren bei der Heuernte und hatten keine Zeit, ihr Korn beim Müller mahlen zu lassen. Um diese Jahreszeit reparierte der Müller alles, was er sonst nicht schaffte, und brachte die Mühle in Ordnung, strich die eine oder andere Wand oder räumte auf. Wenn er das alles erledigt hatte, setzte er sich vor die Mühle auf das Bänkchen und genoß den Tag. So richtig ausruhen, die Natur betrachten und den Gedanken freien Lauf zu lassen, das tut sehr gut. Der Müller saß also hier, hatte gute Laune und dachte an nichts Böses.
Da kam auf einmal seine liebe Frau und meinte: "Du hast jetzt gut Zeit, zum Zahnarzt zu gehen. Du weißt ja, einmal pro Jahr ist es notwendig." So sprach sie zu ihm und verschwand wieder in der Küche. Als ob ein Blitz eingeschlagen hätte, so schnell war es mit der guten Laune des Müllers vorbei. Er überlegte hin und her, rechnete genau nach und kam zu dem selben Ergebnis wie seine Frau: er musste dringend zum Zahnarzt.
Drinnen in der Küche dachte die Müllerin nach und kam dann wieder zu ihrem Mann herausgelaufen. "Ich muss auch zum Zahnarzt gehen, komm wir packen es gemeinsam an, da ist es nicht so schlimm!" Aber auf einmal bekam der Müller arge Bauchschmerzen und er blieb dann lieber zu Hause und ließ seine Frau alleine gehen.
So blieb der Müller auf dem Bänkchen vor der Mühle sitzen und wartete, bis seine Frau wieder nach Hause kam. "Ich hatte nur ein kleines Löchlein und es hat kaum weh getan", erzählte sie erleichtert. "Jetzt habe ich wieder ein Jahr lang Ruhe; ich bin ja so froh. Schade, daß du so ein Angsthase bist, mein lieber Mann. Vielleicht wäre es bei dir ja auch nicht so schlimm, komm, geh halt noch."
Daß er ein Angsthase sei, wollte der Müller natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Jetzt wurde ihm seine Ehre wichtiger als die Angst vor dem Zahnarzt. "Du hast recht, ich breche sofort auf. Das wäre ja gelacht, wenn ich mehr Löcher hätte, als du." Mit diesen Worten stand er mit einem Ruck auf, lief zum Stall und sattelte den Esel. Kurze Zeit später war er bereits unterwegs. Zum Abschied hatte er noch seiner Frau zugerufen: "Es macht mir überhaupt nichts aus, zum Zahnarzt zu gehen; im Gegenteil: es macht mir sogar Spaß!"
Je länger der Müller aber so ritt, desto weniger Spaß machte ihm die Reise. Es schien so, als ob das Näherkommen des Dorfes und damit des Zahnarztes seine Angst anwachsen liesse.
Mitten im Wald war die Waldschenke, in der Reisende sich bei einem Bier von den Strapazen der Straße erholen konnten. Und genau dies tat unser Müller auch. Er setzte sich an einen Tisch vor der Gaststätte und bestellte gleich mal einen heißen Kaba und drei Stück Torte. Einer der Gäste, die mit ihm am Tisch waren, fragte ihn, wohin er denn an einem so schönen Tag reite. "Ach, ich muss ins Dorf, zum Zahnarzt", antwortete der Müller. Da blickten ihn alle Gäste voller Mitleid an und der MÜller sagte angeberisch: "Wißt ihr, ich gehe gerne zum Zahnarzt, meistens habe ich eh keine Löcher, und wenn er dann doch mal bohren muss, dann halte ich den kleinen Schmerz locker aus. So, und jetzt reite ich weiter, damit ich möglichst schnell zum Dorf komme." Der Müller erhob sich, bestieg den Esel und ritt davon.
In der Schenke redeten die Gäste noch voller Bewunderung über seinen Mut. Wenn die wüssten, wie es dem Müller wirklich ging!
Im Dorf angekommen, ging er mit forschen Schritten zum Zahnarzt, meldete sich an und setzte sich ins Wartezimmer. Während die anderen Patienten ängstlich und unruhig auf ihren Stühlen herumrutschten, machte der Müller ein fröhliches Gesicht und pfiff sogar zwischendurch mal ein Liedchen. Nach einer Stunde waren nur noch zwei Leute vor ihm dran. Als der Erste abgeholt wurde und dieser kreidebleich der Sprechstundenhilfe folgte, grinste der Müller nur. Kurze Zeit darauf hörte man den Armen im Behandlungszimmer stöhnen. Da wurde der zweite Patient noch bleicher als es der erste schon war und zitterte vor Angst. Und was tat unser Müller ? Der pfiff noch immer fröhlich seine Lieder.
Jetzt wurde der zweite Patient gerufen. Langsam und zitternd humpelte er aus dem Raum. Gleich darauf hörte der Müller ihn schreien und kreischen. Jetzt wurde es dem Müller doch langsam mulmig. Er hörte zu pfeifen auf und grinste auch nicht mehr. Wie die Patienten bereits vor ihm, begann er zu zittern, wurde bleich und bekam Schweißausbrüche.
Da war es soweit: die Sprechstundenhilfe rief ihn. "Äh, halt, ich bin ja gar nicht zur Behandlung gekommen, ich wollte nur fragen, ob meine Frau heute ihre Brille hier liegen gelassen hat..", stotterte der Müller. - "Gut, dann kommen Sie doch mal mit zum Doktor, vielleicht liegt sie im Behandlungszimmer", antwortete die Sprechstundenhilfe freundlich und schob den unglücklichen Müller ungerührt ins Zimmer zum Zahnarzt. Dort begrüßte ihn der Doktor freundlich und erklärte ihm, daß seine Frau doch gar keine Brille hätte. "Ach, ja, stimmt, hab ich ganz vergessen", log der MÜller und wollte schon wieder schnell zur Türe hinaus. "Aber bleiben Sie doch, wir können gleich nachschauen, ob Ihre Zähne in Ordnung sind, wenn sie schon mal hier sind", meinte der Zahnarzt und grinste so eigenartig. Er zog ihn zum Stuhl und drückte ihn hinein. Ehe der verdutzte Müller reagieren konnte, hatte er bereits den Mund auf und der Zahnarzt schaute mit seinem Spiegel die Zähne gründlich durch.
"Gratuliere, bei Ihnen ist alles in Ordnung, kein Loch! So gute Zähne habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Da ist mir natürlich klar, daß Sie nicht zur Behandlung kommen wollten. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag!" Und damit wurde der noch geschockte Müller wie im Traum vom Zahnarzt hinausgeschoben und ehe er es sich versah, stand er wieder auf der Straße vor der Zahnarztpraxis. "Das gibts doch gar nicht", murmelte der MÜller, band den Esel los, setzte sich darauf und machte sich auf den Heimweg. Während des Rittes wurde sein Verstand langsam wieder klarer. Er freute sich riesig, daß er kein Loch hatte und die Sache so gut ausgegangen war. "Da hab ich ja völlig umsonst Angst gehabt und mich dummerweise drücken wollen! Na, das nächste Mal gehe ich gleich mit meiner Frau hin. Ist ja überhaupt nichts Schlimmes dabei!" dachte er sich.
Als er an der Waldschenke vorbeikam, hielt er an und bestellte sich ein frisches, dunkles Bier. Das schmeckte jetzt bedeutend besser als auf dem Hinritt. Die Gäste von vorher saßen noch immer am Tisch und unterhielten sich. "Na, du Angeber, wie wars den beim Zahnarzt?" rief einer dem MÜller zu. "Ach, kein Problem, ich hatte ja kein Loch. Da ist es nicht schlimm.", antwortete der Müller freundlich. "Das gibts doch gar nicht, du bist ein alter Lügenbold!" riefen die Gäste ärgerlich. Sie schimpften auf den Müller und lachen ihn aus, weil sie dachten, er wäre gar nicht beim Zahnarzt gewesen. Als der Müller sah, daß sie ihm einfach nicht glauben wollten, trank er aus und ritt nach Hause.
Seine Frau erwartete ihn schon am Gartenzaun. "Da bist du ja endlich. Wie wars ? Hat es sehr weh getan ?" fragte sie neugierig ihren Mann. "Nein, nein, stell dir vor, ich hatte kein einziges Loch. Da war der Zahnarztbesuch eine Kleinigkeit." Die Müllerin starrte den Müller ungläubig an. "Du lügst, oder etwa nicht? Das glaube ich dir nicht! Sicherlich bist du gar nicht beim Zahnarzt gewesen, sondern hast dich nur in den Wirtshäusern rumgetrieben! Das finde ich ganz schön unverschämt, mir so eine Geschichte hier aufzutischen!" Die Müllerin regte sich sehr auf. "Halt, halt, das stimmt ganz gewiss, ich kann es ja selber kaum glauben..." und der Müller erzählte ihr die ganze Geschichte, genauso, wie sie war. Sie sprachen noch den ganzen Nachmittag miteinander und am Schluss glaubte die Müllerin ihm doch.
Die Moral von der Geschicht: so gehts, wenn man zuerst mal recht angibt, dann glauben einem die Leute später nichts mehr.