Kraftorte
Immer mehr Menschen weichen der Frage nach Gott aus, indem sie von "einer Energie" sprechen, an die sie glauben, an eine diffuse "geistige Kraft". Der Autor Alan Miller bezeichnet die immer
öfter zu hörende Aussage "Ich bin spirituell, aber nicht religiös" als "eine der rückständigsten Entwicklungen der modernen Gesellschaft". Ohne intellektuelle Redlichkeit, ohne ein gewisses
Mass an geistiger Disziplin und den Willen, zu einem Urteil zu kommen, ist keine Erkenntnis und kein Wachstum möglich.
Eine armselige geistliche Haltung ("ein wenig Yoga hier, etwas Feng Shui da") greift um sich, die sowohl Ausdruck einer intellektuellen Verkümmerung wie auch eines geistlichen Niedergangs ist.
Immer mehr findige Tourismusverbände springen auf diesen Narrenzug auf, um davon zu profitieren. Und weisen Bergtümpel und Kuhwiesen als "Kraftorte" aus. "Kraftorte" werden inzwischen mit der selben
Selbstverständlichkeit auf Panoramakarten verzeichnet, wie Wasserfälle und Aussichtspunkte. So sieht die Kartografie der postmodernen Orientierungslosigkeit aus. Es sind Orientierungskarten einer
Gesellschaft, die um den Verstand kommt. Und so erklärt es sich, dass in malerischer Landschaft verwirrte Sinnsucher im Kreis stehen, gleichmütig beäugt von Ochs und Esel, und "tief in sich
reinspüren und alles loslassen" und sich "mit allem verbunden" fühlen.
Viele schützen sich vor dem Denken, indem sie sagen, die Wahrheit sei, "was mein Bauch mir sagt". Alan Miller spricht von einer "Implosion des Glaubens". Die Strategie ist, das Denken aufzugeben,
um sich nicht entscheiden zu müssen. Das ist noch verhängnisvoller, als der streitbare Atheismus. Ein gestandener Atheist weicht der Frage, wie es ist, ohne Gott zu leben, nicht aus. Er vertröstet
sich nicht mit "Kraftstein-Placebos" und gibt sich damit - immerhin - nicht der Lächerlichkeit preis. Er geht mit einer gewissen Tapferkeit in den Tod und hofft, dass er recht hat.
Dass Menschen die alles entscheidende Frage nach Gott auf einer gefühligen Ebene erörtern, als könne man sie im Stuhlkreis einer therapeutischen Sitzung aushandeln, ist ein verhängnisvoller Tiefpunkt
geistlicher Sinnsuche. Hiob wäre eine gute Lektüre für diese Stuhlkreise. Hiob war anders.
Autor: Thomas Lachenmaier, mit freundlicher Genehmigung.
Quelle: Die Zeitschrift "Factum", meine Lieblings-Zeitschrift. Ich empfehle jedem, mal ein Probe-Exemplar zu bestellen. Hier: factum-magazin
Kommentar vom Illerschorsch: Leider greift der Kraftorte-Glaube auch im Allgäu immer mehr um sich.