Tod eines Lebemanns
Nicht jeder Tod ist ein Rätsel, aber jeder Tod wirft Fragen auf. Im Fall des Kunstsammlers, Fotografen, Dokumentarfilmers und Lebemanns Gunter Sachs, der sich eine Pistole in den Mund schob und abdrückte,
lautet die erste Frage: Wer fand den Leichnam mit dem zerfetzten Gesicht ? Wer wurde mit dem Anblick des leblosen Fleisches überrumpelt, vermutlich tief und schmerzhaft geschockt ? Niemanden, heisst es,
liess Gunter Sachs teilhaben an seiner inneren Düsternis und seinen finalen Plänen. Waren es Bedienstete im Chalet zu Gstaad, waren es Angehörige, denen der Selbstmörder diesen grausigen Anblick zumutete ?
Niemand darf richten über die Verzweiflungen eines anderen. Niemand sollte aber auch den einsamen und letztlich egoistischen Entschluss umbiegen zur Heldentat. Jeder Suizid ist schrecklich für die
Hinterbliebenen, jeder. Sie müssen fortleben mit der Lücke, die die gewaltsame Tat riss, sie müssen Schmerz und Trauer doppelt tragen, aus denen sich der Suizident herauskatapultierte, in dem er kapitulierte.
Kein Scheitern ist gefrässiger. Es schwärt fort nach allen Seiten.
Warum griff der 78 jährige Industriellensohn zur Pistole ? Er wollte sich rechtfertigen, er verfügte, dass ein "Abschiedsbrief" publik gemacht werde. Jeder, der es lesen mag, kann sich in die Motive versenken.
Es war ein Suizid aus Angst vor Kontrollverlust. Weil Gunter Sachs eine "rapide Verschlechterung meines Gedächtnisses" an sich beobachtete oder zu beobachten meinte, ausserdem "gelegentliche Verzögerungen in
Konversationen", sah er ein Schreckensbild aufsteigen: der Ex-Playboy im Würgegriff der "auswegslosen Krankheit A."
Aus Angst vor der selbst diagnostizierten und also lediglich vermuteten Alzheimerschen Erkrankung, aus Angst vor dem imaginierten "Verlust der geistigen Kontrolle" erschoss sich Gunter Sachs. Er wollte sich
einen "würdelosen Zustand" ersparen.
Traurig, nicht heroisch ist diese Alterspanik. Für Gunter Sachs war Menschenwürde an Denkvermögen gekoppelt. Insofern dachte er soziobiologisch. Würde war ihm nicht die unverlierbare Beigabe zur
menschlichen Existenz, sondern eine Leistung, die es intellektuell zu verdienen galt, die auch verspielt werden konnte: ein trauriger und verbreiteter Kurzschluss in einer Gesellschaft, die das Gehirn
verherrlicht, die Seele verleugnet und den Menschen als Kostenstelle und Genpool missversteht.
Ferner strickt die schrille Tat am Mythos, die Nichtexistenz sei einer eingeschränkten Existenz vorzuziehen, das Nichts dem Etwas, das nicht mehr alles ist. Er habe sich entschlossen, der "Bedrohung"
namens Kontrollverlust nun qua Selbstauslöschung "entschieden entgegenzutreten": ein abermals sehr trauriger und in sich absurder Gedanke. Entgeht man dem Feind, wenn man dessen Werk vorauseilend selbst
vollbringt ? Ist die Flucht in den Tod ein Sieg über lebensmindernde Kräfte ? Schlägt der Untergeher dem Untergang ein Schnippchen ?
Gunter Sachs kapitulierte. Daran ist nichts Unmenschliches und nichts Überraschendes. Er kapitulierte vor einer als mitleidlos erfahrenen Gesellschaft, deren Normen er so stark verinnerlicht hatte, dass
er deren destruktive Widersprüche übersah. Der allertraurigste Satz im "Abschiedsbrief" lautet: "Ich habe mich großen Herausforderungen stets gestellt." Der Suizid wird zur vermeintlich vernünftigen
Antwort auf eine von abertausend "Challenges", aus denen ein Leben heute besteht, in dem Schicksal und Prüfung nur Rätselwörter sind für Kinder.
Wird man künftig hören: "Mach doch den Sachs", wenn Alzheimer tatsächlich diagnostiziert wird ? Was denken sich wohl neu Erkrankte beim Blick auf die Gstaader Nachrichten ? Dass ihr Fall auch ein Fall sein
sollte für die Ballistik, nicht für Therapie und Emphatie ? Nicht zum Vorbild, nicht zur Heroisierung taugt der egoistische Abschied. Er erinnert uns alle mit maximaler Wucht daran, dass ein Leben falsch
ist, das solche Menschenbilder zeitigt.
Autor: Dr. Alexander Kissler, mit freundlicher Genehmigung. Siehe auch www.alexander.kissler.de