Bitte keine Brillenträger

Atikel aus der Zeitschrift Fluter Nr. 34 zum Thema Manipulation von Embryonen

Im Jahr 2020 können sich Eltern ihre Kinder vielleicht schon vor der Geburt designen. Haarfarbe, Geschlecht und Gesundheit wären dann keine Frage des Zufalls mehr. Vorausgesetzt, die Politik lässt das zu.
Vielleicht haben die Eltern dieses ungeborenen Kindes diesen Satz schon mal gesagt, den so viele Eltern sagen, wenn sie schon wieder gefragt werden, ob sie sich einen Jungen oder ein Mädchen wünschen: "Hauptsache gesund." Die vergrößerten Chromosomen auf dem Bildschirm sehen aus wie verbogene Würste. Ein Junge, sagt Maren Bierwolf und zeigt auf das Y-Chromosom. Sie ist medizinisch-technische Assistentin am Zentrum für Pränataldiagnostik in Berlin. Und sie sieht noch etwas, das über Leben oder Tod dieses Jungen entscheiden könnte: Sie sieht drei Chromosomen mit der Nummer 21, statt zwei. Nicht gesund ? Der Junge wird mit dem Down-syndrom auf die Welt kommen. Oder besser: würde. Schätzungen gehen von ca. 90 Prozent Frauen aus, die sich dafür entscheiden, ein Kind mit Down-syndrom abzutreiben.
Die Pränataldiagnostik, in den Siebzigerjahren noch absolute Ausnahme für Risikopaare, ist heut Routine. Gibt es im Ultraschall Auffälligkeiten, können Ärzte dem ungeborenen Kind auf Wunsch der Eltern Zellen entnehmen und die Chromosomen untersuchen - in besonderen Notlagen können Frauen ihr Kind straffrei bis zum neunten Monat abtreiben.
Es gibt Anzeichen dafür, daß bis 2020 in Deutschland möglich sein wird, was in anderen europäischen Ländern heute schon Routine ist: Nämlich, ein Kind nicht erst im Mutterleib zu untersuchen, sondern einen Embryo, noch bevor er in die Gebärmutter eingepflanzt wird, daraufhin zu überprüfen, ob er die Schwangerschaft "wert ist" oder nicht.
Es gibt Paare, die wegen eines erblichen Gendefekts ein hohes Risiko haben, ein schwer behindertes oder nicht lebensfähiges Kind zu bekommen. Bisher bleibt ihnen in Deutschland nur die "Schwangerschaft auf Probe" - wird bei der vorgeburtlichen Untersuchung des bereits gezeugten Kindes der befürchtete Gendefekt festgestellt, können sie es abtreiben lassen. Manche Paare hoffen auf die Präimplantationsdiagnostik (PID). Diese setzt voraus, daß ein Embryo durch künstliche Befruchtung im Reagenzglas entsteht. Seit 1978 das erste Retortenbaby, Louise Brown, in Großbritannien zur Welt kam, hat sich die Methode auch in Deutschland zum Standard für ungewollt kinderlose Paare entwickelt. Bei der PID also wird das Erbgut von Embryonen, die im Reagenzglas erzeugt wurden, auf genetisch bedingte Krankheiten untersucht, bevor man sie in die Gebärmutter einsetzt - in Deutschland galt das bisher als verboten. Was viele Wissenschaftler nicht nachvollziehen können. Professor Rolf-Dieter Wegner ist Humangenetiker am Zentrum für Pränataldiagnostik. Er sagt: "Nach deutscher Gesetzgebung ist es tatsächlich so, daß ein noch nicht implantierter Embryo, der aus ein paar Zellen besteht, derzeit mehr Rechte hat als ein schon lebensfähiger Fötus im Mutterleib. Sobald sich ein Embryo eingenistet hat, darf er abgetrieben werden. Das entbehrt jeglicher Logik."
Kritiker befürchten, daß nicht nur erblich vorbelastete Paare die PID nutzen würden, sondern auch Paare, die ihren Nachwuchs nach ihren Wünschen und Kriterien gestalten wollen. Axel W. Bauer sagt: "Es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind." Er ist Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Mannheim. Und seit 2008 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrates, der den Bundestag in medizinethischen Fragen berät. Dort, sagt er selbst, sei er einer der konservativen Vertreter. Er will weiterhin ethisch und politisch für ein Verbot der PID in Deutschland eintreten. Er ahnt, daß das vergeblich sein wird.
Denn vielleicht schon in diesem Jahr (2010) wird der Bundesgerichtshof über einen außergewöhnlichen Fall entscheiden: Ein Berliner Kinderwunschspezialist hatte sich bereit erklärt, drei erblich vorbelasteten Paaren die Schwangerschaft auf Probe zu ersparen. Er untersuchte alle im Reagenzglas erzeugten Embryos, ließ die genetisch auffälligen auf Wunsch der Paare absterben - und zeigte sich selbst an, um Klarheit zu schaffen. Ein Berliner Gericht sprach in 2009 frei, der Fall wurde an den Bundesgerichtshof verwiesen, das Urteil steht noch aus. Bis zu dieser Entscheidung bleibt die strafrechtliche Beurteilung der PID umstritten. Im Embryonenschutzgesetz, das am 1. Januar 1991 in Kraft trat, ist sie nicht erwähnt, weil die Methode damals noch sehr neu war. Dort steht, daß mit Embryonen nichts getan werden dürfe, das etwas anderes als eine Schwangerschaft zum Ziel habe. Insofern, so sah es das Berliner Gericht, habe der Arzt nichts Verbotenes getan.
Axel W. Bauer ist überzeugt, daß unsere Gesellschaft durch die Zulassung der PID auf eine "slippery slope", eine schräge Bahn, geraten würde. Ein klassisches Argument der konservativen Ethik: Es besagt, daß selbst, wenn es einen guten Grund gibt, eine ethisch gerade noch vertretbare Handlungsweise A zuzulassen, diese nicht erlaubt werden sollte, weil sie automatisch in Handlungsweise B münden würde, die nicht mehr ethisch vertretbar ist. Ein auf die Schräge geratener Prozess kann eben nicht mehr aufgehalten werden.
Andere Länder sind auf dieser Schräge schon weiter gerutscht: In Großbritannien wurde Anfang 2009 das erste Kind geboren, bei dem per Embryonenselektion ausgeschlossen wurde, daß es ein Gen trägt, das für Brustkrebs verantwortlich ist. In einigen europäischen Staaten können Eltern schon heute sogenannte "saviour siblings", also "Rettungsgeschwister" gezielt zeugen - sie lassen einen Embryo aussuchen und einpflanzen, dessen Erbgut dem eines kranken Geschwisterkindes möglichst stark ähnelt und der nach seiner Geburt als Knochenmark- oder Stammzellenspender dienen kann. In Amerika können Eltern Embryos zumindest in einigen Staaten nach dem Geschlecht auswählen.

Aber wer vermag darüber zu urteilen, ob diese Länder mit ihren Methoden schon zu weit geschlittert sind oder nicht ? Wer wird zukünftig Grenzen ziehen ? Wenn die Veranlagung für Brustkrebs ein Grund ist, nicht geboren zu werden, was ist mit Diabetis ? Was ist mit Kurzsichtigkeit ? Und: Laut Artikel eins unserer Verfassung ist die Würde des Menschen unantastbar. Nach Immanuel Kant wird die Würde eines Menschen verletzt, wenn er vollkommen instrumentalisiert wird - ist das nicht der Fall bei einem Kind, das nur geboren wird, damit es als Gewebespender dient ?
Der Deutsche Ethikrat hatte bereits 2003 eine Empfehlung für die PID mit engen Begrenzungen empfohlen. Aber was ist eine "schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung", die eine PID rechtfertigen soll ? Axel W. Bauer lacht, es klingt resigniert. "Keine Kommission könnte einen abschließenen Katalog aufstellen, in welchen Fällen eine PID gerechtfertigt wäre und in welchen nicht. Wer hätte das Recht, zu entscheiden, daß diese zehn Krankheiten auf der Liste schwerwiegend genug wären, jene elfte aber gerade nicht mehr ? Das wäre rechtsstaatlich unhaltbar. Diese Vorstellung ist abwegig."
Außerdem, sagt er, sei es eine entsetzliche Vorstellung, daß eine Kommission darüber entscheiden sollte, welche Embryonen als "lebensunwürdig" aussortiert werden dürfen. "Das käme einer indirekten Diskriminierung derjenigen Menschen gleich, die heute und in Zukunft mit den entsprechenden Behinderungen leben."
In Großbritannien ist das heute schon Realität: Eine britische Behörde veröffentlichte im Januar eine Liste mit 116 Gendefekten, auf die Embryonen routinemäßig untersucht werden dürfen - darunter sind Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter oder vielleicht auch gar nicht ausbrechen würden und teilweise behandelbar wären. Bauer geht davon aus, daß auch in Deutschland bei Frauen, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen, die PID bald zum Standard würde - schließlich wollen Reproduktionsmediziner die Erfolgsquote der künstlichen Befruchtung optimieren. Und Frauen entscheiden sich immer später für Kinder - ab 35 steigt das Risiko einer genetischen Störung von Embryonen stark an.
Der französische Pionier der Fortpflanzungsmedizin Jacques Testart sagte schon 1992: Mit der PID werde erstmals eine effektive positive Eugenik technisch möglich. Wann schlägt der Wunsch, Leid zu vermeiden, um in perfektionistischen und elitären Gesundheitswahn ? "Das muß doch heute nicht mehr sein", bekommen schon heute Eltern zu hören, die sich für ein behindertes Kind entschieden haben - oder bewusst auf die vorgeburtliche Untersuchung ihres Kindes verzichtet haben.
Designerbabies mit aus einem Katlaog gewählten Verhaltensmustern und Merkmalskonstellationen dürfte es auch im Jahr 2020 nicht geben, sagt Rolf-Dieter Wegner. "Das menschliche Genom ist viel komplizierter, als wir uns das bis vor Kurzem vorgestellt haben. Für viele Merkmale ist nicht nur ein Gen zuständig, sondern hoch komplizierte Genverknüpfungen. Außerdem gibt es Hinweise auf eine Wirkung der Umwelt auf die Aktivität von Genen." Das könnte die Wirkung von Genen ändern und so zu einem unerwarteten Merkmal führen.
Wie es mit der PID in Deutschland weitergeht, hat auch mit der Frage zu tun, welcher Status dem Embryo rechtlich zugestanden wird: Ist er ein Zellklumpen oder ein Individuum mit Menschenwürde ?
Nachdem das Bundesverfassungsgericht zumindest de facto bereitsch entschieden hat, daß ein ungeborener Fötus nur ein abgestuftes Lebensrecht hat - schließlich ist Abtreibung zwar rechtswidrig, aber unter bestimmten Umständen straffrei - kann man davon ausgehen, daß dem noch nicht implantierten Embryo von juristischer Seite ebenfalls zwar Würde zugestanden, die PID aber dennoch in bestimmten Ausnahmefällen erlaubt wird. In Deutschland, damit rechnet Rolf-Dieter Wegner, werden sich die Regeln zur PID an denen des aktuellen Gendiagnostikgesetzes orientieren.
Demnach ist es verboten, ungeborene Kinder auf Krankheiten zu untersuchen, die erst nach dem 18. Lebensjahr ausbrechen würden - das wäre mit dem Selbstbestimmungsrecht des entstehenden Kindes nicht vereinbar. Die Untersuchung auf die Veranlagung für Brustkrebs etwa wäre demnach nicht möglich - vorerst.